Leserbrief zum Interview mit Kay Stöck in der ZEIT

Hamburg hat trotz aller Kritik ein fortschrittliches und weit entwickeltes Schulsystem. Die Grundschulen bereiten den Weg zur weiterführenden Schule intensiv vor und verfügen über eine breite Palette an Profilen, um Nachteile auszugleichen und Begabungen zu fördern. Von der Versorgung mit einem gesunden Frühstück bis zur Übergangsgestaltung in das Gymnasium, bzw. die Stadtteilschulen gibt es eine große Zahl an Unterstützungsmaßnahmen, die vom Schulsystem begleitend vorgehalten werden. Auch helfen Stiftungen und Vereine, die die gesellschaftlichen und schulischen Defizite erkannt haben und in Zusammenarbeit mit Schulen und Behörde punktuell unterstützend tätig werden. Mit „brotZeit“ und „Weichenstellung“ seien hier nur zwei erfolgreiche Unterstützer der schulischen Arbeit genannt.

Die Erkenntnisse moderner Pädagogik legen nahe, alle Kraft zum Ausgleich bestehender Ungleichheiten zwischen Kindern verschiedener Herkunft und mit verschiedenen Begabungen besonders in der Grundschule zu mobilisieren und zu nutzen. Studien haben bewiesen, dass es dazu einer guten Beziehung zur Lehrerin und zum Lehrer bedarf. Zweite Bedingung ist eine angstfreie und förderliche Lernsituation, die auch Spiel und Spaß beinhaltet, sowie eine dem sozialen Lernen und dem Erfahrungslernen zugewandte Lernsituation. Auch das unterstützt die Hansestadt mit der Begrenzung der Klassenfrequenzen auf 19 respektive 23 Schüler/Schülerinnen pro Klasse. Als gesetzliche Vorgabe ist diese Maßnahme in der Bundesrepublik einzigartig. Außerdem wird – über einen in großen Abständen erhobenen Sozialindex – die Unterstützung einzelner Schulen in Bezug auf die Klassengröße und die finanzielle, sowie personelle Ausstattung zusätzlich verbessert.

Hamburg hat daher in den vergangenen Jahrzehnten schon immer – nach Bedarf – in verschiedenen Stadtteilen sowohl integrative Regelschulen, als auch Ganztagsschulen vorgehalten, um den besonderen Bedarfen der Kinder und Eltern der Stadt gerecht werden zu können. Vor Ort haben eine große Gruppe von Lehrern/innen, Sonderpädagogen/Sonderpädagoginnen, Sozialpädagogen/innen und Erzieher/Erzieherinnen in gemeinsamer Teamarbeit erfolgreich versucht die Erziehungs- und Bildungsnachteile von Kindern auszugleichen. Das hat nicht unerheblich zum Bildungserfolg dieser Kinder beigetragen. Das Miteinander verschiedener sozialer Herkunft und verschiedener Leistungsfähigkeiten hat zu einer gesellschaftlich wünschenswerten sozialen Vermischung und einem gesellschaftlichen Miteinander beigetragen, dass auch heute noch – als Grundlage – zum sozialen Konsens der Gesellschaft gehören muss. Dabei hat nie ein Kind seine Leistungsfähigkeit verloren, bzw. verleugnen müssen. Flüchtlings- und Gastarbeiterkinder wurden wie selbstverständlich integriert und lernten die deutsche Sprache im Handumdrehen. Konsequenterweise spielten Schulnoten in den ersten Schuljahren auch nicht die Hauptrolle.

Und dennoch gelingt nicht allen Kindern der Schritt zur weiterführenden Schule. Die Förderschulen bleiben eine notwendige Erfordernis, um allen Kindern eine Bildungsmöglichkeit offen zu halten.

Inklusion und Ganztagsschule stellen in diesem Zusammenhang eine konsequente und erforderliche Weiterentwicklung des Systems dar und leisten auch wirtschaftlich einen guten Beitrag. Werden doch Schulgebäude nun von 6 bis 18 Uhr für Erziehung und Bildung genutzt, wo der Bedarf von den Eltern angemeldet wird. Damit sind wir auf einem guten und richtigen Weg.

Die Stadtteilschulen stehen in der Tradition der Gesamtschulen, die seit Jahrzehnten für eine fortschrittliche, weil durchlässige Schulform, stehen. Damit wird den naturgemäß unterschiedlichen Entwicklungsphasen und Entwicklungssprüngen von Kindern und Jugendlichen Rechnung getragen.

Konsequenterweise hat man daher Haupt- und Realschulen in diese Schulform integriert, um die Entwicklungsmöglichkeiten der Schülerinnen und Schüler in einer flexibilisierten Schulform zu verbessern. Dadurch eröffnen sich Kindern und Jugendlichen mit unterschiedlichen Entwicklungs- und Lerngeschwindigkeiten vielfältige Möglichkeiten im Laufe ihres Schullebens verschiedene Abschlüsse anzustreben und auch in der Stadtteilschule zu guten Erfolgen zu kommen. Das kann auch das Abitur nach 13 Jahren bedeuten, obwohl niemand das hätte empfehlen wollen, bzw. es diesen Jugendlichen zugetraut hätte.

Das System der Integration und der Ganztagsschule auf die Schulform „Stadtteilschule“ zu übertragen ist aus den gleichen Gründen sinnvoll und richtig, wie es auch in der Grundschule vernünftig ist. An den grundlegenden Formen und Geschwindigkeiten des Lernens und dessen sozialer Einbindung ändert sich schließlich auch bei älteren Kindern nichts.

Eine grundlegende Veränderung muss aber in der Stadtteilschule beachtet werden: die berufliche Verwertbarkeit von Gelerntem und Erfahrenem hat hier eine immens wichtige Bedeutung und muss im Verlauf des Lernens auch ein berufliches Ziel erreichen können. Hier können die polytechnischen Schulen der Ex-DDR ein Beispiel für die Umsetzung darstellen. Aber auch die Stadtteilschulen sind schon heute in der Lage diese Rolle zufriedenstellend zu übernehmen. Dabei ist die Berufsorientierung ein wichtiges Standbein, das die Integration aller Schülerinnen und Schüler in den Arbeitsmarkt vorbereiten hilft. Auch hier arbeiten Fachleute verschiedener Berufsrichtungen mit viel Engagement an genau dieser Aufgabe. Nur so ist es möglich, mit dem ersten und zweiten Bildungsabschluss auch ohne Abitur in ein gewinnbringendes und zufriedenstellendes Berufsleben zu starten.

Und dennoch hat auch Kay Stöck recht mit seiner Kritik. Es gelingt – trotz aller Anstrengungen – nicht durchgängig.

Die Gymnasien stellen den „Schnelldurchgang“ zum Studium dar. Sie werden nach wie vor in der Bevölkerung als „Schlüssel zum Erfolg“ angesehen. Zunehmend werden sie von Eltern auch gegen den Rat der Fachleute angewählt. Leider hat das eine hohe Rückläuferquote zur Folge – mit all den meist nicht erwünschten persönlichen Folgen für das betroffene Kind. Die Diskussion der vergangenen Jahre hat gezeigt, wie unterschiedlich die Ansichten über diese Schulform sind – und vermutlich auch bleiben. Hier hat Hamburg Flagge gezeigt und auch gegen verschiedene Widerstände am achtjährigen Weg zum Abitur festgehalten.

Warum allerdings diese Schulform nicht sowohl das Abitur nach 8, als auch nach 9 Jahren anbieten soll, ist wissenschaftlich nicht zu belegen.

Die Gymnasien sind durch ihre Grundstruktur am wenigsten von Integration bzw. Inklusion betroffen. Das ist schade, da auch hier gesellschaftliche Vorteile in der Mischung zu sehen sind. Selbstverständlicher Umgang mit Handicaps von Mitschülern und Mitschülerinnen stellt auch für Gymnasialkinder ein wertvolles Lernziel dar.

Ganztagsschule wird für Gymnasiasten wohl vorerst in der zusätzlichen Arbeitszeit über den Tag verteilt zu finden sein. Nur „Überflieger“ bewältigen diese Variante in einer halbtägigen Schulform.

Nun hat die neue Pisa-Studie erneut gezeigt, dass Hamburg – innerhalb Deutschlands – nicht die Leistungsdurchschnitte anderer Bundesländer erreicht. Woran liegt das?

Trotz großer inhaltlicher, sowie finanzieller und personeller Anstrengungen ist das Lernklima in den Stadtstaaten offenbar anders als in den Flächenstaaten. Bevölkerungszusammensetzung und städtische Bedingungen machen also einen Unterschied. Berlin und Bremen zeigen sehr ähnliche Phänomene.

Für Hamburg gilt insbesondere, dass in den vergangenen 10 Jahren eine Vielzahl von politischen Vorgaben teils gescheitert, teils umgesetzt worden ist. Das hat die Mitarbeiter der Schulformen stark verunsichert. Was heute noch galt, war morgen schon Makulatur. Die kurze Geschichte der sechsjährigen Primarschule hat die Schullandschaft durcheinandergewirbelt. Ein versprochener „Schulfrieden“ der dem System und allen Beteiligten Planungssicherheit geboten hätte, um sich in aller Ruhe bei der inhaltlichen Arbeit weiter zu entwickeln, ist nie im eigentlichen Sinne zustande gekommen.

Statt dessen wurde in kurzen Abständen erst die flächendeckende Ganztagsschule und gleich danach die flächendeckende Inklusion eingeführt. Beides mit bescheidenen Mitteln, aber in der Sache wünschenswert und erforderlich.

Nun kommt die Flüchtlingsbeschulung hinzu, für die Hamburg von der Sache her gut vorbereitet ist. Das Problem ist in Hamburg nicht neu und wurde in der Vergangenheit mit viel Engagement erfolgreich bewältigt. Nur in dieser Größenordnung stellt es eine außergewöhnliche Herausforderung dar. Sie wird uns noch länger beschäftigen.

Hinzugekommen sind in diesen Jahren auch eine Vielzahl von praktischen Aufgaben vor Ort. Umstellung auf ein neues Immobilienkonzept: Schulen sind Mieter bei Schulbau Hamburg geworden.

Digitalisierung des Schulalltags: Nicht immer hat die Einführung digitaler Verwaltungsmedien reibungslos funktioniert.

Einführung von Krisenteams: Notfallpläne für die Schulen erarbeiten und umsetzen.

Es gäbe noch viele Beispiele zu nennen. Alle haben ihren Sinn. Doch die Arbeitszeit hat sich nicht verändert. Ein Lehrer arbeitet 46,57 Stunden pro Woche und hat dafür 12 Wochen unterrichtsfreie Zeit. Aber die Schule ist jetzt bis auf wenige Schließungswochen von 6 bis 18 Uhr geöffnet. Das Personal muss betreut und planerisch verwaltet werden. Die pädagogische Zusammenarbeit zwischen Unterrichtsphasen und Betreuungsphasen muss organisiert werden. Leitung einer Schule bedeutet nun viel zusätzliche Arbeit.

In einer großen Schule mag das personell zu bewältigen sein. Dort werden auch entsprechende Gehälter nach der Höhe der Schülerzahl angeboten. Die Leitungsgruppen können sich Aufgaben teilen. An kleinen Schulen, in der Regel Grundschulen geht das nicht. Die Funktionszeiten reichen nicht mehr aus. Sekretariate sind teils überfordert.

Viele Bereiche sind nicht ausreichend versorgt. Der Aufwand, den die Umstrukturierungen erfordern, wird nicht ausreichend unterstützt. Zudem gibt es immer noch einen massiven Generationswechsel in den Kollegien. Erfahrung und Routine gehen verloren und können nur sukzessive ersetzt werden. Ich teile die Sorge, dass im Lehrerberuf ein hoher Verschleiß an Personal billigend in Kauf genommen wird.

Die ins Auge gefasste Anpassung der Ausbildung von Lehrern stellt eine zusätzliche und notwendige Chance zur Verbesserung des Schulwesens dar. Wann allerdings diese in der Realität angekommen ist, müssen wir abwarten.

Was wir brauchen, ist eine Denk- und Verschnaufpause, um uns wieder auf eine qualitativ hochwertige Schulbildung zu konzentrieren. Hamburg ist auf einem guten Weg. Aber der begonnene Strukturwandel an Hamburgs Schulen braucht Entwicklungszeit, Spielraum zur Konsolidierung und zu qualitativer und beständiger Umsetzung im schulischen Alltag.

Die Schulen brauchen auch konkrete Unterstützung ihrer Behörde. Der Musterflächenplan, Grundlage aller räumlichen Bedarfe von Schulen, muss den neuen Bedingungen angepasst werden. Im Ganztagsschulbereich müssen einheitliche Qualitätskriterien entwickelt werden. Gerne auch unter der Beteiligung von Elterngremien. Volksentscheide hindern mehr als das sie nützen, wenn sie jährlich an den Grundlagen der aktuellen Schulentwicklung rütteln.

Die Personalausstattung muss den ehrgeizigen Veränderungsplänen auf allen Ebenen angepasst werden. Es muss über eine Verwaltungsressource an Schulen, oder in Schulverbünden, nachgedacht werden. Berlin geht da mit gutem Beispiel voran.

Und zu guter Letzt muss auch über die finanzielle Ausstattung des Bildungssektors offen gesprochen werden. Alle Ausbaupläne des Bildungssektors kosten zusätzliches Geld. Hüten wir uns davor, die verschiedenen Schulformen finanziell gegeneinander auszuspielen. Das darf nicht geschehen. Eltern und Kinder werden uns die rote Karte zeigen. Zu Recht.

Stephan Kufeke, Rektor a.D.